„Werde, der du bist!“ Auf diesen Satz des griechischen Dichters Pindar stieß ich vor einigen Jahren. Ich fand ihn in einer Zeit, in der ich mich intensiv mit der eigenen Identität, den eigenen Werten und der eigenen Haltung auseinandersetzte. Ich hatte meinen eigenen Kompass verloren, Stück für Stück in den Jahren meiner zwanzigjährigen Berufstätigkeit. Zwar waren das Gehalt und die Verantwortung mit der Komplexität der Aufgaben gestiegen, aber die Sinnhaftigkeit meiner Tätigkeiten erschloss sich mir immer weniger. Nichts, außer mein hedonistisches Lebensprinzip, vermochte es noch, mir Halt und Orientierung zu geben.

Es war das Jahr 2016 als ich beschloss: Jetzt reicht's!

Mitte des Jahres stimmte die britische Bevölkerung für den BREXIT und die Amerikaner im November für einen frauen- und fremdenfeindlichen Narzissten an ihrer Spitze. Fakenews, Hass, Rassismus und Hetze hatten ihren Höhepunkt im Netz erreicht und schlugen nun auch noch in meinem Freundeskreis ein:

Ein Bekannter von mir geriet in einen bedrohlichen Shitstorm, der von Rechtsradikalen angezettelt wurde. Tagelang wurden er und sein damaliger Arbeitgeber ins Kreuzfeuer genommen und drangsaliert, bis die Agentur sich dafür entschied, das Arbeitsverhältnis mit meinem Bekannten aufzulösen, um so erstmal nur für sich das Problem zu lösen.

Es war wohl irgendwann in diesem Jahr, dass ich mich auf meinen Gerechtigkeitssinn zurückbesann, eine Haltung gegenüber diesen Ereignissen entwickelte und mich dafür entschied, auch im Sinne dieser Haltung zu handeln. Man kann seine Überzeugungen ein halbes Leben lang zurückstellen und sie anderen Dingen unterordnen, die scheinbar eine höhere Priorität genießen. Aber sie flackern immer wieder auf, wenn Ereignisse an den eigenen Werten kratzen und dann zeigen sie uns, was uns wirklich wichtig ist und wo wir handeln sollten.

"Each man is questioned by life; and he can only answer to life by answering for his own life; to life he can only respond by being responsible."

Viktor Frankl, Neurologe und Psychater

Viktor Frankl sagt, dass uns das Leben keine Antworten gibt. Es stellt uns täglich Fragen und wir haben dann die Möglichkeit, auf jede dieser Fragen so zu antworten, wie wir es für richtig halten. Auf diese Weise ergibt sich aus allen Entscheidungen, die wir treffen, der individuelle Lebenssinn. Wir alle haben einen Wertekompass. Wir trauen uns aber nur allzu selten, ihn zur Navigation unseres Lebens einzusetzen. Aber, sind wir uns unserer Werte nicht mehr bewusst oder handeln ihnen gar zuwider, verletzen wir uns selbst. Wir verlieren unsere Haltung und noch viel schlimmer, unsere Lebensenergie.

Im Dezember 2016 stellte mir das Leben eine Frage und ich entschied mich aus dem Bauch heraus, diese Frage mit ja zu beantworten. Innerhalb eines Jahres baute ich auf facebook mit all meiner Erfahrung und viel Energie eine Bürgerinitiative mit 45.000 Mitgliedern auf, die sich täglich mit sachlichen und empathischen Kommentaren für eine bessere Diskussionskultur in den sozialen Medien einsetzt und erhielt dafür 2018 den Bundesverdienstorden. Viele weitere Ehrungen sollten folgen, aber den wertvollsten Preis habe ich mir letztendlich selbst verliehen: die endgültige und unwiderrufliche Anerkennung meiner eigenen Haltung.